Musik

Erika de Heer – eine bescheidene Ikone der Kölner Oper ist tot

  Die Koryphäe 

In Erinnerung an Erika de Heer 1924-2019

Nachruf von Georg Kehren, Chefdramaturg der Oper Köln

Sie gehörte zur Oper Köln wie die Magna Charta zur British Library. Mehr als vier Jahrzehnte lang verbanden sich ihr aristokratisch-melodiös klingender Name und die Kölner Oper am Offenbachplatz in der Wahrnehmung von Opern-Fachleuten zu einem Amalgam der Extraklasse: Erika de Heer, die Pianistin, Solorepetitorin und langjährige legendäre Studienleiterin. 

In der Nacht vom 11. auf den 12. November hat sie, nach einem arbeitsreichen, im Wesentlichen der Musik geweihten Leben, 95-jährig die letzte Hürde genommen. Sie war eine hoch geehrte Persönlichkeit, und ihr Ruf reichte weit über die Grenze Kölns hinaus. 

Im Jahr 1965 war die gebürtige Sächsin – nach jeweils mehrjährigen Theater-Stationen in Lübeck, Hildesheim, Freiburg und Kiel – an das Kölner Opernhaus gekommen, und dies, wie sie mit der ihr eigenen Bescheidenheit immer wieder betonte, „ohne einen ‚Tristan‘ drauf zu haben“. Den hatte sie dann aber selbstredend auch bald „drauf“ und begleitete ihn – wie bei allen anderen Opernproduktionen – während der szenischen Proben am Flügel; darüber hinaus erarbeitete sie im Studierzimmer mit jedem einzelnen Sänger, jeder einzelnen Sängerin in vielen hochkonzentrierten Übungssitzungen – sprich Korrepetitionen – so engagiert wie einfühlsam dessen/deren jeweilige Partie. 

Über das berufliche Profil, das diese famose musikalische Spezialistin an der Oper Köln ausfüllte, macht sich das breite Publikum in der Regel keine Gedanken. So kannten die OperngängerInnen die kleine, zierliche Dame, wenn überhaupt, allenfalls von den Mozart-Aufführungen des Ponnelle-Zyklus, wo sie bis in die späten 1980er-Jahre am Cembalo mit fein differenziertem Anschlag die Rezitative begleitete. Dabei war diese Tätigkeit während der Vorstellungen nur das ‚Sahnehäubchen‘ zum Ende eines langen Arbeitstages, der für sie vielerlei musikalische Einsatzbereiche vorsah. Das Zimmer 301 im Opernhaus am Offenbachplatz, das sogenannte ‚GMD-Zimmer‘ im Zwischengeschoss, war der hellste aller Übungsräume im ganzen Gebäudetrakt. Dieser Raum war das ‚Zauberreich‘ beziehungsweise ‚Arbeitslabor‘ der Erika de Heer – ein Hochleistungszentrum des Operngesangs sozusagen. Die Übungseinheiten bei der Autoritätsperson de Heer waren mindestens so begehrt wie die Sprechstunden einer Spezialärztin oder einer Seelsorgerin mit hellseherischen oder heilenden Qualitäten – sowohl bei den Ensemblemitgliedern beziehungsweise den internationalen Gastsolisten der Kölner Oper, als auch bei jenen Sängerinnen und Sängern, die gegebenenfalls sogar eine weitere Anreise in Kauf nahmen, um vom Wissen und Bemühen der kompetenten Kölner Studienleiterin zu profitieren. 

Erika de Heer vereinte in sich alle Stärken ihres Fachs: das pianistische Hochtalent, die Kenntnis der Opernpartien in allen nur denkbaren musikalischen Details, das Gespür für die Möglichkeiten und Grenzen einer Stimme und – ungeachtet ihrer Kompromisslosigkeit, was den künstlerischen Anspruch betraf – ihre Freundlichkeit und der Respekt vor jeder Person: Nichts Menschliches war ihr fremd. Darüber hinaus war sie nicht der Typ Mensch, der Lehrsätze verkündet, Werturteile fällt oder Meinung macht – Unparteilichkeit war ihre Devise, und dennoch, oder gerade deswegen, galt sie bei allen als eine hohe Instanz. „Es ging ihr bei all dem nie um sich selbst, immer nur um das ‚Heilige‘, um die Sache an sich“, so brachte es die Mezzosopranistin Dalia Schaechter auf den Punkt, als die Nachricht vom Tod der pensionierten Kollegin die Oper Köln erreichte. 

Auch nach dem Eintritt ins Rentenstadium, noch etwa bis 2012, als sie bereits in den hohen Achtzigern war, setzte sie die Korrepetitionen fort, und natürlich weiterhin in Raum 301. Und niemand wäre da auf die Idee gekommen, sich über das Alter dieser unermüdlich einsatzfähigen Kollegin Gedanken zu machen – und auch nicht über den Umstand, dass diese ja eigentlich hoch betagte Dame fast Tag für Tag, sozusagen bei Wind und Wetter, mit ihrem blauen VW-Golf von ihrer Wohnung in der Gilbachstraße am Inneren Grüngürtel zum Offenbachplatz gefahren kam. Dieses doch sehr spezielle ‚Seniorinnenprogramm‘, das jedem Beobachter nur Bewunderung abringen konnte, bewältigte sie mit einer frischen Nonchalance, gerade so, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, und als sei die Welt eben das Kölner Opernhaus, in dem man immerzu arbeitet und sich mit seinen reichen Erfahrungen musikalisch-künstlerisch einbringt. 

Als Erika Simang am 19. Januar 1924 in Dresden geboren, wuchs sie, schon früh musikalisch gefördert, im sächsischen Leisnig auf. Die beruflichen Anfänge als junge, erfolgreiche Pianistin verknüpften sich mit der Dresdner Philharmonie, wo sie schon in den 1940er-Jahren mit den großen Klavierkonzerten in Erscheinung trat. Ihr ‚zweites Leben‘ begann, wie sie später häufig anmerkte, nach den verheerenden Dresdner Luftangriffen vom 13. bis 15. Februar 1945, als sie das von den britisch-amerikanischen Bombern im Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland ausgelöste Brand-Inferno überlebte und auch die traumatischen post-apokalyptischen Zustände innerhalb der seuchengefährdeten Stadt in den darauffolgenden Wochen. 

In der trüben Nachkriegszeit folgten für sie, jeweils für einige Jahre, die Stationen als Pianistin und Repetitorin an den oben genannten Theatern. „Diese Zeit, die Fünfzigerjahre, waren ja eigentlich schlimm“, resümierte sie noch neulich und fügte hinzu: „In Freiburg hatte damals die Kirche sehr viel Einfluss. Bei Offenbachs ‚Orpheus in der Unterwelt‘ durften die Tänzerinnen beim Can-Can am Schluss nicht juchzend die Röcke lüpfen, und sie mussten schwarze Strumpfhosen darunter tragen. Es sah schlimm aus.“ Mit Freiburg verbanden sich auch ihre Ehejahre mit dem niederländischen Tänzer und Ballettmeister, als aus Erika Simang eine Erika de Heer wurde. 

Die Teilung Deutschlands betraf sie ganz persönlich, in familiärer Hinsicht. So blieb ihr insbesondere die Situation in Erinnerung, als sie, ebenfalls in den 1950er-Jahren, im Harz durchs Dickicht hinüber in die DDR robbte, um ihre dort verbliebene Mutter, die sie später zu sich nach Köln holte, zu besuchen. Eine andere Möglichkeit bot sich damals nicht. Der im Dezember 2018 verstorbene, legendäre Kölner Bassist Carlos Feller, bekannt für seinen sardonisch gegerbten Humor, kannte Erika de Heer bereits vor der Kölner Zeit und schätzte die Kollegin über alles: „In Kiel nannten wir sie einfach nur ‚Gemupo‘, das hieß ‚Geheime Musikpolizei‘“, so frotzelte er einmal in fröhlicher Runde, und diese seine Äußerung, auch für Erikas ‚musikpolizeilichen‘ Ohren höchstselbst bestimmt, bedeutete so viel wie eine kollegiale Liebeserklärung. 

Köln wurde schließlich – da war sie Anfang 40 – zur Wahlheimat der sächsischen Musikerin. Hier fand ihr beruflicher Werdegang seine eigentliche Erfüllung. Es waren die viel beschriebenen Jahre, bei deren Erwähnung jener Teil des Kölner Publikums, der sie noch miterlebt hat, gerne ins Schwärmen gerät. Es wurde täglich gespielt, und das Opernhaus der Domstadt bildete ein Mekka für LiebhaberInnnen großer Gesangskunst. Köln war eine bevorzugte Anlaufstelle aller Sängernobilitäten von Weltruhm. Erika de Heer ‚hatte‘ sie alle – und ein jeder/eine jede von ihnen kannte und schätzte sie, die Unermüdliche, als so hilfreiche wie vertrauenswürdige Kapazität am Flügel. Hinsichtlich der legendären Rudolf-Noelte-Inszenierung von Tschaikowskys „Pique Dame“ unter der musikalischen Leitung von Gerd Albrecht von Ende der 1970er-Jahre resümierte sie zum Beispiel später: „Der René Kollo war damals sehr gut, aber er kam schlecht studiert in Köln an. Da hat ihn der Gerd Albrecht verdonnert: ‚Herr Kollo, ab jetzt üben Sie jeden Tag vor der Probe eine halbe Stunde lang mit de Heer!‘ Und er kam, zwar oft zu spät, aber er kam, und wir haben uns gut vertragen.“ Dann war da zum Beispiel noch die junge Margaret Price mit ihrem Kölner Sensationsdebüt im September 1971 als Donna Anna in „Don Giovanni“ unter István Kertész: Schon allein, mit welcher Leichtigkeit und Virtuosität sie den Intervallsprung in der oft viel zu nachlässig ‚weggesungenen‘ Phrase „abbastanza per te mi parla amore!“ im Rezitativ der heiklen ‚Non mi dir‘-Arie meisterte, zeichnete diese Belcantistin als etwas ganz Besonderes aus. „Das ‚abbastanza‘ von der Margaret“, so de Heer, „war ganz besonders, ihre Spezialität, das machte keine so wie sie“. Später, bei wachsender Berühmtheit als begnadete Mozart-Sängerin, sorgte – so erinnerte de Heer auch – die impulsive, später zur ‚Dame‘ geadelte Waliserin Price dann doch schon mal für akuten ‚Brexit-Alarm‘, als sie nach einem Probenzoff in flammendem Zorn und mit der festen Absicht, gänzlich ohne ‚Abkommen‘ aus der Kölner Produktion auszusteigen, in Richtung Flughafen Köln/Bonn mit dem Fernziel Britische Inseln aufbrach, um dann aber doch noch – all’s well that ends well – im letzten Moment von einer Sondereinsatztruppe der Oper Köln eingesammelt, besänftigt und zurück zur Probebühne geleitet zu werden. Those were the years! „Und der „Matti“ (Salminen), der kam ja ganz jung zu uns. Was für eine schöne Stimme!“ Wenn sie den bärenstarken Finnen scherzhaft ärgern wollte, musste die unermüdlich ums stimmliche Training des Jung-Bassisten bemühte Pianistin ihn zum Ende der Übungseinheit nur auffordern, zum Abschluss dann doch bitte noch die Noten zur Kantate von Johann Sebastian Bach zur Hand zu nehmen: „An den Bach wollte der Matti nämlich nie ran. Wenn ich ihn dann gebeten habe, es doch zu versuchen, hat er immer erst mal aufgestöhnt und abgewehrt. Aber dann hat er es versucht und konnte es auch gut, und ich habe das immer gerne von ihm gehört.“ Auch an Sir John Pritchard, den einstigen Kölner Chefdirigenten mit der schelmischen Ironie im Knopfloch, erinnerte sie sich immer mit Wertschätzung, auch in menschlicher Hinsicht: „Seine Mozarts waren wirklich sehr gut, das kam ganz aus ihm heraus. Geprobt hat er aber nie gerne.“ 

Erika de Heer hat die ‚alten Zeiten‘ nie verklärt – ganz authentisch und geerdet waren ihre Berichte. Zu vielen der früheren Weggefährten hielt sie den Kontakt und bewahrte sich gleichzeitig eine Neugier auf alles Neue, auch auf die neuen Kollegen der Oper Köln. Auch als die gesundheitlichen Beschwerden sich häuften, blieb sie zukunftsoptimistisch. „Ach ja, der Glanz der Jugend verblasst allmählich“, so lautete eine ihrer poetisch verbrämten Antworten, wenn man sich nach ihrem Befinden erkundigte. Die Arthrose in den Fingern machte in den letzten Jahren das Klavierspielen unmöglich: Diese Einschränkung war vielleicht, gar mehr noch als der Verlust des Sehvermögens, der schmerzlichste Einschnitt. Doch auch diesbezüglich gestattete sie sich keine Klagen: „An Heiligabend kommt meine Nachbarin zu Besuch. Klavier spielen kann ich ja nicht mehr, aber wir singen dann Lieder. Singen können wir noch.“ Auch wenn sie über die früheren Zeiten nicht den Schleier der Verklärung breitete, nahm sie sich aus ihren Erlebnissen und Erfahrungen viel stille Weisheit und Kraft: „Früher war ja alles viel bescheidener, die Menschen und auch das Theatermachen. Es war ja kein Geld da. Und es gab überhaupt viel weniger Menschen als heute“, so schilderte sie ihre Wahrnehmung und fügte, immer um Präzision und Objektivität bemüht, auch gleich mit nachdenklicher Miene hinzu: „Die genauen Zahlen müsste man natürlich mal überprüfen.“ 

Man darf es sich in der Trauer um sie vielleicht als tröstlichen Gedanken nehmen, dass ihr Alter – all den gesundheitlichen Malaisen zum Trotz – nicht einsam war, sondern geprägt durch echte Freundschaften, durch die Freude an der Natur, auch am Wandern und durch den Kontakt mit Menschen, von denen ihr viele einesteils Sympathie oder Liebe, andererseits auch einen großen Respekt, Wertschätzung und Verehrung entgegengebracht haben. Ihr Blick blieb nach vorn gerichtet, und allen Menschen, egal welcher Nationalität oder Couleur, begegnete sie offen und in positiver Erwartung. 

Eine Episode aus ihrer ganz frühen Zeit verrät viel über den verschmitzten Humor und die liebenswerte Bescheidenheit dieser hellwachen Theaterfrau: „In Hildesheim musste ich mir die Küche mit mehreren Wohnparteien teilen. Da wollte ich, weil der Arnold Petersen, den ich von Lübeck her kannte, zu Besuch kommen sollte, Weißkohl kochen. Etwas anderes hatte ich nicht da. Aber ich konnte es nicht richtig, und das haben alle gesehen in dieser offenen Küche. Ich kochte den Kohl einfach so, mit dem blanken Wasser. Da haben die mir dann geraten, ich solle doch etwas Kümmel dranmachen, damit es nach was schmeckt. Das waren Zeiten! Und der Petersen hatte dann einen Riesenhunger und hat den Kohl mit Kümmel bei Kerzenschein mit solch einem Genuss gegessen, als könne es gar nichts Besseres geben.“ Noch neulich hatte sie überlegt, sie müsse mit diesem geschätzten Kollegen aus frühen Zeiten, aus dem später ein sehr erfolgreicher Intendant geworden war und den sie Jahrzehnte lang nicht mehr gesprochen hatte, doch mal wieder Kontakt aufnehmen und diese heitere Erinnerung aus den frühen 1950ern auffrischen, ihn fragen, ob er sich daran eigentlich noch erinnere – aber da war Arnold Petersen dann leider auch gerade verstorben. 

Weißkohl mit Kümmel: Jeder, der diese muntere, immer zuversichtliche Dame mit dem unverwechselbaren, leicht sächsisch gefärbten Tonfall und der bedächtigen Sprechweise gekannt hat, würde es sich als große Ehre anrechnen, diese Mahlzeit in ihrer Gesellschaft zu sich nehmen zu dürfen. 

So wollen wir es denn auch angehen, und keiner darf zu spät kommen: Weißkohl mit Kümmel, ein feierlich-frugales Festmahl, dazu ein Meer von Lichtern und Johann Sebastian Bachs Choral „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ – eine Feier zu Ehren der großen Erika de Heer, der Kölner ‚Exzellenz am Klavier‘, die mit ihrer freundlichen, humanen Stimme nicht nur eine wertgeschätzte Opernkollegin war, sondern auch eine wachsame Zeugin des Jahrhunderts. Sie hörte alles, und ihr entging kein falscher Ton. 

Dank an Georg Kehren für die freundliche Genehmigung

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