Oper Aachen: Il Viaggio a Reims – nur eine Mogelpackung oder ein virtuose Opernkomödie ?
Gut informierten Rossini-Fans dürfte es bekannt sein, dass diese berühmte Reise nach Reims nie ihr Ziel erreicht hat. Wie denn das ? Und Rossini hat darüber sogar eine komplette Oper geschrieben ? Nun sollte man zum Hintergrund wissen, dass es um die Krönung von Karl X. geht, eben in Reims, der den Adel und die bedeutenden Zeitgenossen seiner Zeit (oder die sich zumindest dafür hielten) dazu eingeladen hatte. Wir schreiben das Jahr 1825, Rossini hatte das Werk extra dafür geschrieben. Drei Abende waren geplant, aber dabei blieb es dann auch, zumal dem König das Werk eh zu lang war. Es geriet – trotz Änderung für die Hochzeit der berühmten Kaiserin Sissi und partielle Verwendung für „Le Compte Ory“ – in Vergessenheit, zumal für die Aufführung 14 Spitzensänger erforderlich sind.
Michael Hampe, legendärer Intendant der Oper Köln, wies den Vorschlag des Schreibers dieser Rezension, das Werk doch bitte auch in Köln zu spielen, aus Kostengründen zurück. Und das zur Blütezeit der Oper Köln! Der Schreiber war damals hochbegeistert aus Rossinis Geburtsstadt Pesaro zurückgekehrt, wo die jährlichen Absolventen der „Accademia Rossiniana“ im Rahmen des „Rossini Opera Festivals“ ihre szenischen und musikalischen Qualitäten in der Inszenierung von Emilio Sagi zeigen, aufmerksam beobachtet von zahlreichen „Voice-Huntern“ (Haedhuntern) aus ganz Europa. Also nix mit Köln. Später folgte noch einmal Pesaro, dann Kopenhagen https://www.kulturcram.de/2017/03/fuer-rossini-freunde-ein-muss-il-viaggio-a-reims-ein-highlight-in-amsterdam-und-kopenhagen/ und Hannover, jedes Mal mit anderer „Handlung“. Und nun in Aachen, der Partnerstadt von Reims. Netterweise waren kleine Stadtpläne ausgelegt und eine Delegation aus Reims zur Premiere eingeladen. Ist ja nicht so weit weg.
Eine richtige „Handlung“ gibt es in der Oper mitnichten. Die illustre Reisegruppe hatte im schicken Badehotel „Zur Goldenen Lilie“ eine Zwischenstation eingelegt, um von dort nach Reims weiterzureisen. Da aber blöderweise keine Pferde zur Verfügung standen, gab es eine unfreiwillige Übernachtung mit allerlei Komplikationen, den üblichen zwischenmenschlichen Streitereien und diversen spontan-erotischen Affären. In der früher besuchten Aufführung in der Oper Hannover war der Flugplatz Langenhagen einfach in „Airport Karl X.“ umbenannt, durch ein aktuelles „Startverbot“ standen daher reichlich Boden- und fliegendes Personal für die Oper zur Verfügung. In Kopenhagen spielte die Geschichte in einer Galerie, wo sich während einer Vernissage aus den Gemälden die einzelnen Figuren herauslösten. Entzückend. Und in Aachen entsann sich der niederländische Regisseur und Bühnenbildner Michiel Dijkema der vielen Staus auf den reichlich befahrenen Straßen im Dreieck Aachen-Lüttich-Maastricht und schuf eine riesige bunte Baustelle auf der Straße, mit allen möglichen Schildern, Ampeln, Absperrungen, einem langen Stau, einem turmhoch beladenen Auto und einem Motorrad. Fast ein Wimmelbild. Dazu ein Wohnwagen für die Harfe der Corinna (lyrischer Sopran von Laila Vallés), sehr praktisch auch für erotische Abenteuer. Und sehr viel singendem und köstlich spielendem Baustellenpersonal (Einstudierung Jori Klomp). Die „Goldene Lilie“ mutierte zu einem Kleinbus mit den bereits genannten Koffern. Spontaner Szenenapplaus erschallte im ausverkauften Hause: Na, das kann ja ein lustiger Abend werden. Zumal Dijkema in der Szene einen sehr guten Namen hat für seine originellen Inszenierungen und Bühnenbilder. Es lohnt sich sehr, auf seinen Webseiten zu stöbern: https://www.operabase.com/artists/michiel-dijkema-99532/de und http://www.michieldijkema.com/biografie-deutsch
Bei einer eher dürren Geschichte hat der jeweilige Regisseur oft viel Spaß daran und Lust darauf, seinen eigenen Gag- und Spaß-Vorrat ordentlich anzuzapfen. Und das hat Dijkema in so hohem Maße getan, dass man nur empfehlen kann, die Aufführung ein zweites Mal zu besuchen, denn ein Knüller jagt den nächsten; teilweise auch etwas unter der Gürtellinie, wenn etwa Belfiore sein Gemächt mit dem Handy knipst und es Corinna mailt. Aber die wehrt sich gekonnt mit Pfefferspray und modernem Taser. Oder ob das die offensichtlich bärenstarke Maddalena (Irina Popova) ist, die den übergewichtigen Bauarbeiter Don Prudenzio (Stefan Hagedorn) locker mit einem Arm stemmen kann oder ob es der schlüpfrige Inhalt eines von der Dampfwalze versehentlich plattgefahrenen Koffers der Contessa (Suzanne Jerosma) ist, der sich bei der Rückwärtsfahrt entrollt und den Inhalt fast lüstern ausbreitet. Auch die Reparatur des nach einer amourösen Attacke zerfetzten Kleides der sehr erotischen Madama Cortese mit dem Flatterband der Baustelle ist köstlich. Als es sich herausstellt, dass die Straße gesperrt ist, werden aus den Absperrungen die Tische für eine rauschende Party gezaubert. Nett: Ein ganzer Turm von gefühlt 50 Pizzakartons wird da angeschleppt. Man muss ständig aufpassen, um all die kleinen und großen Späße auch zu registrieren.
Das Aachener Sinfonieorchester unter seinem ersten Kapellmeister, dem Koreaner Chanmin Chung, schlägt sich bestens in der opulenten Revue von halsbrecherischen Arien und einfach wunderschönen Ensembles. Echte, sehr schwungvolle Italianitá in der Kaiserstadt, große Klasse ! Außerordentlich hörenswert ist die große Katalogarie des Don Profondo (SunJun Cho), wo die einzelnen Nationalitäten der Teilnehmer herrlich parodiert werden; eine frühere Paradepartie des von mir hoch geschätzten Ruggiero Raimondi, inzwischen mit 82 Jahren „außer Dienst“. https://www.youtube.com/watch?v=e7N5sa7fTP8 Natürlich muss auch Karl X. vorkommen; da hat sich der Regisseur etwas sehr Originelles einfallen lassen.
Für drei friedliche Außerirdische, die einem Raumschiff entsteigen, sind die verschiedenen Nationalhymnen gedacht, nach deren Absingen Karl X. leibhaftig erscheint, und sich im standesgemäßen Hermelin-Outfit mit Krone unter das Publikum mischt.
Das Abendprogramm nennt 17 Sängerinnen und Sänger, die hier nicht alle benannt werden können. Und schreibt von fünfzig Darstellenden gleichzeitig auf der Bühne. Auch wenn ich mich wiederhole: Am besten selbst reingehen. Dann sieht man auch, wie viel Arbeit die sonst selten gelobte Requisite hat (Leitung: Kai Wätjen). Dann sieht man auch die ausgezeichnete Soloharfenistin Christina Maria Kausel-Kurz, die von der Seitenbühne die göttliche Corinna begleitet hat. Kleiner Hinweis: Die ital. Telefonnummer auf dem Wohnwagen für die Harfe ist leider nicht belegt.
Mit dieser herausragenden Produktion dürfte sich die Akzeptanz der Oper Aachen mit ihrer neuen Intendantin beim Publikum noch einmal ordentlich gesteigert haben. Man kann ihr nur weiterhin eine gute Hand wünschen.
Köstliche Fotos: Annemone Taake
Besucht: Premiere am 13.1.2024
Rezension von Michael Cramer
Karten: https://www.theateraachen.de/de/seiten/tickets.html
Weitere Aufführungen: Fr. 26.1., So. 4.2.24, Mi. 7.1.24, So. 25.2.24, So. 24.3.24, So 31.03.24, So. 07.04.24, Sa 13.04.24