Unendliche Geschichte mit Rossinis “Viaggio”
Er war schon ein verrückter Kerl, der Rossini. Hat in kurzer Zeit an die vierzig traumhafte Opern „quasi aus dem Handgelenk“ geschrieben, die bis heute überall in Europa gespielt und gesungen werden. Hat sich auch selbst beklaut und weniger erfolgreiche Stücke einfach umgeschrieben. Ist ja nichts dagegen zu sagen.
In letzter Zeit besannen sich die Opern-Verantwortlichen eines Werkes, welches fast vergessen war – die „Il Viaggio a Reims“ (Reise nach Reims). Problem hier: Für die Aufführung sind jede Menge Spitzensänger notwendig, das Stück ist daher schon grenzwertig für kleinere Häuser. Zumal das Libretto hier fast keine Handlung vorgibt. Pesaro ist die Geburtsstadt von Rossini, hier wird die Oper jährlich gespielt, allerdings immer dieselbe Inszenierung. Grund ist, dass hier alljährlich eine Sänger-Weiterbildung läuft, die „Accademia Rossiniana“. Die Absolventen können ihre neu erworbene Kunst dann in der „Viaggio“ präsentieren, vor Fachleuten „VoiceHuntern“ aus ganz Europa; und natürlich auch vor normalem Publikum. Und dann schlägt natürlich die Stunde der Regisseure und Bühnenbildner, denn jedes Haus möchte etwas Neues für diese handlungsarme Oper präsentieren. So lief die Geschichte in Hannover auf dem Flugplatz, wo es ein Startverbot gab http://theaterpur.net/nebenan/2018/06/hannover-il-viaggio.html , auch ein Stau auf der Autobahn bei Aachen https://www.kulturcram.de/2024/01/oper-aachen-il-viaggio-a-reims-nur-eine-mogelpackung-oder-ein-virtuose-opernkomoedie/, das Chaos bei einer Vernissage (Amsterdam und Kopenhagen https://www.kulturcram.de/2017/03/fuer-rossini-freunde-ein-muss-il-viaggio-a-reims-ein-highlight-in-amsterdam-und-kopenhagen/), ein Sanatorium 2002 in „La Coruna“ und das Europäische Parlament. In Pesaro spielt es in einer Badeanstalt mit zahlreichen Wannen, in denen die Stars dann singen dürfen. Man darf zu Recht gespannt sein, welche Spielorte in Zukunft noch auftauchen.
Das Werk ist als szenische Kantate konzipiert; eine adelige Reisegesellschaft auf dem Weg nach Reims zur Krönung von Karl X. steckt im Hotel fest, es gab schlichtweg keine Pferde. So vergnügten sich die Gestrandeten mit allerlei Spielchen und kleinen amourösen Abenteuern, veranstalten quasi ein Belcanto-Fest. Rossini hat hier das größte Ensemble der Operngeschichte auffahren lassen, zehn Hauptpartien und acht weitere Solorollen – ein absoluter Rekord der Operngeschichte. Leider war der Kaiser wenig kulturaffin, nach drei Aufführungen war Ende, bis – nach 150 Jahren – Teile des originalen Manuskripts in einer römischen Bibliothek von Santa Caecilia auftauchten. In Puzzelmanier zusammengesetzt erstrahlte das Werk 1976 erneut unter der Leitung von Claudio Abbado als absurde Repertoireoper, gesungen hatten u.a. Ruggiero Raimondi, Monserrat Caballé und Ferrucio Furlanetto unter der Regie von Luca Ronconi.
Nun, was haben die Niederrheiner da aus dem Stoff gezaubert ? Die Gegend ist bekannt für ihre archäologischen Ausgrabungen; und genau da setzt die Geschichte ein. Da ist eine Gruppe aus der Biedermeierzeit, die aus einem Bus in einem riesigen Erdloch geklettert ist, und die alle aus verschiedenen Bereichen stammen; alle wollen nach Reimes zur Krönung. Dagegen stehen die modernen Altertums-Forscher mit technischem Equipment. Die originellen Kostüme und die Bühne von Benita Roth zeigen dies sehr deutlich. Also Opernspaß allerorten. Denn man wartet auf eine „Zeitmaschine“, welche die Gestrandeten wieder zurückbeamen soll. Die aber wegen eines üblichen Staus auf der Autobahn nicht ankommt. Und später zerstört wird; statt dessen feiert man „lokal“.
Musikalisch ist durchweg hervorragendes zu vernehmen. Hoch gelobt werden muss, dass bis auf zwei Stimmen alle Sänger aus dem Ensemble oder dem Opernstudio stammen; hier zeigt sich, dass die konsequente Nachwuchsschulung Früchte trägt. Die Qualität der Sängerinnen und Sänger bewegt sich durchgängig auf hohem Niveau, eine Einzelbewertung erübrigt sich daher: Palmen für alle! Der junge Dirigent Giovanni Conti, der auch das Continuo im Stehen spielte, hielt die recht präzise spielenden Niederrheinischen Symphoniker mit bewegtem, zackigem Dirigat zu engagiertem Spiel an. Ein Sonderlob gehört den ausgezeichneten Bläsern. Luft nach oben ist allerdings noch im Zusammenspiel mit der Bühne, welches sich allerdings im Laufe des Abends deutlich besserte.
Es gibt ständig etwas zu sehen, angefangen mit den originellen Übertiteln, die zeitweise auch die Handlung erläutern, und mit den anfänglichen Einzelvorstellungen der Sängerriege, die das Verständnis der Geschichte deutlich erleichtert. Fast Wimmelbilder allerorten.
Ungeachtet dessen ist die karge „Handlung“ schon nicht ganz einfach zu verstehen. Da hilft das entzückende Abendprogramm, welches man käuflich erwerben kann. Aber kaum jemand kann es vorher ausreichend lesen. Auch die Fotos der Akteure sind eine hübsche Idee, nur- wer kann sich alle Bilder merken ? Auf der Webseite der Oper existieren zahlreiche kleine Videos von den einzelnen Sängern, die aber kaum jemand komplett anschauen mag. Das Video ist da sehr viel informativer. Tipp: Auf der Seite des Kölner Gürzenich-Orchesters kann man sich das Abendprogramm immer einige Tage vorher kostenlos herunterladen. Ist vielleicht eine Alternative für Krefeld.
Die Oper Krefeld hat hier ein fabulöses Sängerfest gestemmt, an dem das fast ausverkaufte Haus (2. Aufführung am 3. April) riesigen Spaß hatte und lange stehend applaudierte. So muss Oper sein! Ach ja – die Zeitmaschine. Die funktionierte dann doch nicht. Ist auch besser so.
Fotos: ©Matthias Stutte
Text: Michael Cramer
Weitere Aufführungen: https://theater-kr-mg.de
Premiere: am 17. März 2024 im Theater Krefeld
am 27. Oktober 2024 im Theater Mönchengladbach