
Eine “Entführung” nach W.A. Mozart
Zwischenmenschliche Konflikte statt orientalischem Milieu
Premiere am 13. März 2022, besuchte Aufführung am 19. März
Trailer der Oper: https://www.oper.koeln/de/mediathek#v
Diejenigen Zuschauer, die meinten, kurz vor der Pause in den klassischen „Opernschlaf“ verfallen zu müssen, haben etwas Wesentliches versäumt: die große Arie der Konstanze „Martern aller Arten“. Die junge Sopranistin, jüngst aus dem Kölner Opernstudio ins Ensemble übernommen, hat sich hier noch einmal selbst übertroffen nach ihren beiden Arien im ersten Teil. Ihre klare und frische Stimme schraubte sich perfekt in die höchsten Koloraturen hoch, trotzdem blieb sie immer musikalisch kraftvoll, ganz ohne Schärfen. Ganz dickes Kompliment, fantastisch! Ihr kann guten Gewissens eine blendende musikalische Zukunft prophezeit werden. Schade nur, dass der musikalische Genuss durch allerlei inszenatorisches Gewusel auf der Bühne etwas beeinträchtigt war.
Sehr interessant war es auch, Rainer Mühlbach, musikalischer Leiter des Opernstudios und in Köln viel gefragter Dirigent, bei seiner Arbeit zuzusehen. Er musste das Kunststück vollbringen, gleichzeitig das Orchester zu dirigieren und die Sänger auf den richtigen Trab zu bringen. Denn die Musiker saßen vor ihm und die Bühne war hinter ihm – je nachdem auch umgekehrt. Glücklicherweise hat er zwei voneinander unabhängige Arme, einen für die Musik und einen für die Bühne; so musste er oft heftig rudern und sich dabei quer stellen, um vor allem die Sänger mit dem Orchester zu synchronisieren. Man ahnt es schon: Das haute leider oft nicht so richtig hin, manche Nummern waren arg verschleppt. Die 200 Zuschauer (mehr erlaubt die Feuerwehr nicht) saßen in zwei Blöcken und verfolgten das ebenerdige Spiel von der Seite. Bei den sehr erfolgreichen gerafften Aufführungen der Kinderoper, darunter auch Wagners „Ring des Nibelungen“, mag das angehen, hier aber sollte die nur ganz geringfügig gekürzte Oper gespielt werden. Und das war nicht so einfach, denn die Regisseurin Kai Anne Schumacher hat zusammen mit dem Dirigenten ein gänzlich anderes Stück konstruiert, ohne Turbane, ohne Serail, ohne Orient; da musste man sich erst einmal „warmsehen. Nicht so einfach. Vor allem der kulturelle Konflikt zwischen Orient und Okzident entfällt weitgehend zugunsten einer Beziehung zwischen Konstanze und Belmonte. Die Regisseurin meint lt. Begleittext, dass das Libretto nichts von der Tiefe der Empfindungen verraten würde, daher müsse man psychologisch herangehen. Das Serail ist für sie „eine gedankliche Vorstellung aus dem Unterbewusstsein der Hauptfiguren zu verstehen“; kein Wunder, dass nix ist mit dem gewohnten Spiel von einem griesgrämigen Osmin gegen den pfiffigen Pedrillo. Dieser Regieansatz ist szenisch nicht einfach zu realisieren und vor allem dem Publikum klarzumachen, welches „seine Entführung“ kaum wiedererkennt.
Sehr bunt und sehr originell sind auf jeden Fall die Kostüme von Valerie Hirschmann, es gab sehr viel Unterschiedliches zu sehen, vom Löwenkostüm bis zum Dirndl. Auch der Einsatz des von Bang-In Jung blendend einstudierten Chores ist sehr ungewöhnlich; aus dem reduzierten Chor entwickeln sich immer Doppelgänger der Protagonisten, die sich musikalisch einmischen. Dominique Wiesenbauer hat eine Szene mit Unmengen von weißen Tüchern entworfen, aus denen Konstanze sich anfangs, wie aus einem Bett räkelt, die durch Seilzüge und Gebläse umherschwirren und den Rock von Konstanze weit aufblähen, während sie durch einen versteckten Mechanismus weit nach oben schwebt.
Alle Sänger und Sängerinnen stammen aus dem Internationalen Kölner Opernstudio bzw. sind inzwischen fest im Ensemble. Auch hier sieht man wie immer den hohen Effekt der musikalischen Weiterbildung, gefördert von den „Freunden der Oper Köln“. (www.opernfreunde-koeln.de) Alle zeigen zusätzlich zu einer exzellenten Gesangsstimme eine hohe Spielfreude, im Opernstudio haben sich viele Freundschaften gebildet. Den Belmonte sang der Koreaner SeungJick Kim; er meisterte musikalisch die sehr schwierige Partie, szenisch war allerdings noch Luft nach oben: die Regie hatte ihm eine etwas unglückliche Darstellung und merkwürdige Verkleidung verordnet. Sein hervorragender Tenor ließ dieses Manko allerdings vergessen. Justin Drozdziok spielte und sang den Pedrillo klangschön, Rebecca Murphy singt und spielt sehr frisch und munter das Blondchen. Und Lucas Singer schenkt der Figur des Osmin seine sehr hübsche Bassstimme, die allerdings in der Tiefe etwas mehr Volumen brauchen könnte.
Florian Reimers als Bassa Selim ist im Outfit eines Zauberers eine Art Anführer, der sowohl der Konstanze psychisch zur Seite steht wie auch allerlei Zauberkunststücke hinbekommt. Die „moderne“ Lesart der Entführung mag nicht jedem gefallen haben, ist aber ein diskutabler Weg, den Opernklassiker zu entfilzen. Wobei der Einfall der Regie, die wunderbare Ouvertüre auf einer wummernden Hammondorgel spielen zu lassen, eher kritisch zu sehen ist. Das Publikum auf jeden Fall applaudierte lang und heftig.
Fotos von © Paul Leclaire
Text von Michael Cramer

