Theater

Nach 15 Jahren ein erneutes Gemetzel im Kölner Schauspiel

Ausgezeichneter Erstling eines Regie-Studenten

Tristan Linder, Regie                   Foto: Thomas Banneyer

 

Die Szene ist bekannt: da springt eine junge  hervorragende, aber noch wenig bekannte Sängerin für eine berühmte erkrankte Kollegin ein, hat kaum Zeit zur Vorbereitung, und landet einen riesigen Erfolg. So etwas war in der Vergangenheit oftmals die Initialzündung für eine blitzartige wie blendende Karriere. Ein ähnliches Schicksal kann man auch Tristan Linder wünschen, nein besser, voraussagen, der im Schauspiel Köln ganz kurzfristig für die erkrankte Pınar Karabulut einsprang. Wenn auch nicht wie ursprünglich vorgesehenen mit Kafkas „Der Prozess“ , sondern – schon mutig – mit dem Erfolgsstück „Gottes Gemetzel“ der 1957 in Paris geborenen Yasmina Reza mit jüdisch-iranischen Wurzeln, die auch „Kunst“ (im Kölner Bauturmtheater über 500 mal gespielt) und „Dreimal Leben“ verantwortet hat. Das Gemetzel (2006) hatte sich schnell mit über 80 Inszenierungen im deutschsprachigen Raum verbreitet und wurde 2008 in Köln sehr erfolgreich von der früheren Chefin Karin Baier inszeniert. Und auch von Polanski verfilmt, wenn auch nur mit mäßigem Erfolg. Den hatte allerdings Tristan Linder mit seiner Inszenierung.

Nach einer Beschäftigung mit der Theaterwissenschaft kam er 2019 als Regieassistent nach Köln und studiert seit 2021 in Hamburg Theaterregie; in Köln hat er offensichtlich einen so guten Eindruck hinterlassen, dass man ihn für die Regie für „Gott des Gemetzels“ anfragte. Klar sagte er zu, trotz extrem kurzer Vorbereitungszeit. An der Hochschule musste er erstmal „um frei bitten“, und wurde regelrecht ins kalte Wasser geschmissen, wenn auch auf eine Bühne, die um ein mehrfaches größer ist als seine bisherigen „Spielplätze“. Daraus resultiert vielleicht auch seine Idee, die Schauspieler am Ende mit einer riesigen Brause nasszuspritzen.

Das Stück war überhaupt kein Lückenfüller, sondern passt hervorragend in unsere politisch wirre Zeit mit einem Angriffskrieg in Europa, mit wirtschaftlichen Existenzängsten, mit Sorgen über einen eventuellen eigenen Abstieg, mit Klimakrise. Wobei der Plot relativ simpel ist: Da schlägt ein Jugendlicher einem Schulkameraden mit einem Stock 2 Zähne aus. Nichts lebensgefährliches, aber sehr ärgerlich und mit unsicheren und offenen Folgekosten. Anstatt über einen teuren Anwalt zu verhandeln, besuchen die Eltern des geschädigten Bruno, Alain und Anetta Reisse, die Täter-Eltern Véronique und Michel Houillé und sprechen auf dem Balkon bei Kaffe und selbstgebackenem Kuchen über die „Tat“ deren Sohnes Ferdinand, um einen Brief an die Versicherung von Bruno zu formulieren. War das Absicht, war der Täter mit dem Stock „bewaffnet“? Man ahnt es – aus dem zunächst friedlichen Gespräch wird ein rabenschwarzes Drama. Nicht nur, weil Alain den des Nachts lärmenden Hamster einfach herzlos aussetzt, der am nächsten Morgen prompt verschwunden ist. Sollte der arme Kerl etwa warten?

Nicht nur, weil Michel als Anwalt einer Pharmafirma ständig mit Mitarbeitern lautstark telefoniert, um die Nebenwirkungen eines Medikaments zu vertuschen – welches dann auch noch die Mutter von Alain nimmt – und davon abgebracht werden muss über ein rotes Telefon an einer langen roten Telefonstrippe, die immer vom Schnürboden herabgelassen wird. Andeutung an das politische “rote Telefon”? Bis Véronique den elektronischen Störenfried schließlich in einer Blumenvase ertränkt. Nein, viel schlimmer. Der Konflikt zwischen den Söhnen überträgt sich auf die Elten. Ist der Schädiger vielleicht eine Gefahr für die Allgemeinheit? Und ist der Aussetzende des Hamsters in eine feindliche Umgebung als Mörder anzusehen?

Die Typen sind von der Ausstatterin Lucie Hedderich sehr originell und passend gekleidet: Michel, der Anwalt, im übertrieben großkarierten Anzug, Alain, ein Eisenwarenhändler, eher schlicht, seine Frau Annette, eine Pädagogin, in grotesk weiter Bluse, und Lola, die Anwaltsgattin und Anlageberaterin, unter einem überdimensionalen Hut. Die zunehmend dem Alkohol zuspricht, sich in Moralpredigten versteift, um in einer unglaublichen „Kotzorgie“ ihren Frust auf die Welt und ihre Ehe zu demonstrieren. Alleine für diese Szene lohnt ein weiterer Besuch der sehr stark nachgefragten Aufführung.

Die schauspielerisch ausgezeichneten Protagonisten gehen sich zunehmend an die Gurgel, aber das wird überwiegend eher lustig in echter Slapstick-Manier. Natürlich kennt man das Stück, der Regisseur hat es auch nicht „Neu“ gesehen, aber ein hochintenvives Stück Theater daraus gemacht, mit perfektem Timing und gepfefferten Dialogen, mit komödiantischer Messerschärfe und dennoch einem tragischen Grundton. Zum Schluss kommt Regen auf, der sich in Schnee wandelt, dann der Guss vom Himmel hoch. Der kam vermutlich vom Gott des Gemetzels, der beruhigend auf die Streitenden einwirkt.

Der junge Regisseur sei für diese Meisterleistung vielmals beglückwünscht. Vielleicht kann man später sagen, von ihm die erste richtige Regiearbeit gesehen zu haben.

Premiere am 27.1. 2023

Rezension von Michael Cramer

Fotos von Krafft Angerer ©

Kommentare deaktiviert für Nach 15 Jahren ein erneutes Gemetzel im Kölner Schauspiel