Aktuell oder historisch

Hänsel und Gretel – ganz ohne Knusper

 Traumhafte Umsetzung des Opern-Klassikers

Beim Studium von Opern- Programmen am Jahresende fällt auf, dass viele Bühnen Humperdinks „Hänsel und Gretel“ spielen, oft sogar sehr häufig wie im Staatenhaus; hier geht die romantische Oper 10 mal über die Bühne. Obwohl diese in Köln in üblicher Anordnung gar nicht existiert: ganz ohne Orchestergraben und Schnürboden, mit zwangsläufig reduziertem technischem Equipment. Denn das Staatenhaus ist ein Provisorium seit vielen Jahren und auch noch für viele Jahre. Aber man hat sich halt arrangiert, zumal die extrem breite Bühne auch „breite“ Produktionen möglich macht. Diese Oper ist beileibe kein Kinderstück, auch wenn in der Premiere auffällig viele Kinder saßen. Entstanden war es damals auf Bitten von Adelheid, der Schwester des Komponisten, die ihren Bruder gebeten hatte, einige Lieder für ein Märchenspiel aus ihrer Feder zu vertonen, gedacht für eine private Geburtstagsfeiertagsparty für ihren Mann. Wenn Humperdinck auch nur annähernd geahnt hätte, welch internationalen Erfolg seine Oper später einheimsen würde – und welche Freude er an der Kölner Produktion gehabt hätte.

Die Geschichte stammt aus der Märchensammlung von Jacob (1785-1863) und Wilhelm (1786- 1859) Grimm. 1812 bis 1815 wurden diese als Ergebnis ihrer unermüdlichen Sammler- und Forschertätigkeit unter dem Titel „Kinder und Hausmärchen” herausgegeben. Von Hause aus waren die Brüder Juristen und kümmerten sich u.a. als Sprachwissenschaftler um die Vereinheitlichung der deutschen Sprache. Selbst geschrieben haben sie allerdings keines der Märchen.

Die Geschichte dürfte hinlänglich bekannt sein: ein armer Besenbinder (wer kennt den Job denn noch) lebt eher schlecht als recht am Wald mit seinen beiden Kindern Hänsel und Gretel. Er ist Witwer, hat aber wieder geheiratet. Es reicht vorne und hinten kaum, die Kinder werden aus Ärger über einen zerbrochenen Milchtopf von ihrer Stiefmutter in den Wald geschickt, um Beeren zu sammeln. Dabei verlaufen sie sich, schlafen ein unter der Obhut von 14 Engeln; Ohrwurm: „Abends will ich schlafen gehen“. Am Morgen- aufgeweckt vom Taumännchen – finden sie das bekannte Knusperhäuschen und die Besitzerin, eine grausige wie hungrige Hexe. Sie sperrt die Kinder ein, versucht den Hänsel zu mästen, fühlt immer wieder an seinem Finger, ob er denn zugenommen hat. Und will Gretel in den Ofen schieben, um sie zu braten. Was natürlich mißlingt; schließlich endet sie selbst in ihrem Ofen, die Kinder sind frei, und mit ihnen viele andere, die gefangen waren.

Nun dürfte es schwierig sein, mit einer solchen Story die Handy-verwöhnten Jugendlichen vom Hocker zu reißen. Béatrice Lachaussée, die junge französische Erfolgsregisseurin und Trägerin des Götz-Friedrich-Preises, hat in Köln im Staatenhaus und in Kolumba mehrfach sehr erfolgreich inszeniert, so den Doppelabend  „L´heure espagnole / L´ enfant e les sortiléges“ und „Ljob“ von Wilfried Hiller. Mit Dominic Wiesenbauer (Bühne und Kostüme) schuf sie modernes Szenario: Der Vater ist ein abgewrackter Schausteller, der in einem Wohnwagen am Waldrand von Gelegenheitsarbeiten lebt, da der Erlebnispark am Rande der Stadt geschlossen wurde. Ein vergammelter Autoscooter erinnerte an bessere Zeiten, ebenso die Schrift „Dreamland“: sie ist wohl eher ironisch gemeint. Überhaupt: Chefdirigent François Xavier Roth, selbst Franzose mit inzwischen blendenden Deutschkenntnissen, hält die romantische Oper des Deutschen für eine der am besten komponierten Exemplare am Opernhimmel. Als vielseitiger Dirigent kann er es schon beurteilen; dem Werk war ein Riesenerfolg beschieden, die Uraufführung dirigierte Richard Strauss in Weimar; sehr schnell wurde die Oper überall nachgespielt. Immerhin war der Komponist Adlatus und glühender Verehrer des großen Richard Wagner, und nicht umsonst wird das Stück auch leicht ironisch „Kinderstubenweihfestspiel“ genannt. Für Roth ist das Dirigat eine Chefsache, immerhin leitet er auch die meisten der zehn Aufführungen selbst, sogar die Schulaufführungen. Und das ältere Publikum lächelt still in sich hinein bei „Suse liebe Suse“ und „Ein Männlein steht im Walde“. Denn das Männlein ist hier eine knallrote Glühbirne, die sehr selbstbewusst durch die Gegend hüpft – Video macht´s halt möglich.

Lachaussée hatte mit der Bühnen- und Kostümbildnerin Dominique Wieshauer eine kongeniale Mitstreiterin in ihrem Konzept, zusammen mit dem hoch kreativen Video-Künstler Grégoire Pont. Man startet mit einer Szene auf einer höher gelegenen Nebenbühne, wo jemand stirbt und dann auf der Hauptbühne beerdigt wird; symbolisch der Tod der Mutter. Die recht lange Ouvertüre verkürzt sich damit erheblich. Und nach der obligaten Szene vor der Hütte befindet man sich auf einmal in einem Wald, ohne dass irgendwelche Requisiten rangeschleppt wurden. Jede Menge Bäume, undurchdringliches Dickicht, allerlei kurioses Getier fliegt durch die Gegend, geisterhafte, japanisch angehauchte Comics: Alles per Video. Dazu zahlreiche Waldtiere, Hasen, Igel und Rehe, sogar ein Nemo-Fisch schwimmt im Wald. Und über allem schweben Nebelgeister, ein Flaschengeist schaut vorbei, Sand- und Taumännchen verstreuen flirrende Sterne. Schon sehr viel zu goutieren.

Auch das Hexenhaus kommt ganz ohne Printen und Lebkuchen aus, die Teile könnten aus der rosaroten TV-Werbung entnommen sein mit Muffins, Eiscreme, Keksen und Lollies, dazu gibt es sogar eine Maschine für Zuckerwatte. Die Hexe (Dalia Schaechter hier in einer Paraderolle) könnte aus einer schlüpfrigen Revue stammen, mit einer überdimensionalen roten Perücke und ihrer brodelnd-giftigen Stimme, wie man sie aus vielen fantastischen Rollen kennt; ihr „Zauberstab“ aus Zucker entschärft dann alles wieder. Das alles passt wunderbar und anrührend zusammen, etliche Tränchen dürften bei den älteren Zuschauern während der bekannten Ohrwürmer geflossen sein.

Auch mit der Besetzung der Stimmen und Personen hat die Kölner Oper einen Glücksgriff getan. Das Geschwisterpaar Hänsel (Anna Lucia Richter) und Gretel (Kathrin Zukowski) ergänzen sich ideal, im Spiel und vor allem stimmlich als heller Mezzo und strahlender Sopran; ihr bezauberndes Duett „Abendsegen“ kann ergreifender kaum sein. Der Kölner Publikumsliebling Miljenko Turk, Bühnen-Vater der beiden Mädels, erfüllte die in ihn gestellten Erwartungen bravourös: mit leichter Ironie, mit sehr gutem Spiel und hervorragend textverständlich ließ er seinen prachtvollen Bariton glänzen. Es ist immer wieder eine Freude, ihn im Staatenhaus live und sehr spielfreudig zu erleben.

Dalia Schaechter blieb auch als Hexe in ihrem Element als dramatische Sängerin treu; ihr Bereich liegt bei den schweren Verdi-Rollen, auch mit Strauss und Wagner ist sie sehr vertraut.   Sie ist eine der wesentlichen Säulen des Kölner Ensembles, ganz klar, daß sie die Hexe singt und auch toll spielt. Judith Thielsen überzeugte mit klangvollem Mezzo als Frau des Besenbinders Gertrud vollends, und die zierliche Ye Eun Choi erfreute mit hübschem Sopran als Sandmännchen und Traummännchen.

Die Statisterie der Oper spielte wie immer kernig, die Knaben und Mädels der Kölner Dommusik jubelten sehr, sich am Ende als erlöst zu präsentieren.

Nach 2 Stunden war das Spiel um Hänsel und Gretel zu Ende. Das volle Haus dankte mit langem Applaus, mit Trampeln und vielen Bravos. So muss Oper sein.

Premiere 19. Dezember

Fotos: ©Paul Leclaire

Rezension von Michael Cramer

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