Theater

Raum13 – SCHÖNHEIT DER VERGÄNGLICHKEIT #3-1_DAS WERK

Historischer Wunsch – Realität geworden

An die hundert weiße Luftballons steigen im maroden Innenhof des ehemaligen Hauptsitzes der Deutz-AG in den frühabendlichen Himmel; an ihnen baumelt ein Kärtchen, auf dem jeder Zuschauer seine eigene Definition von Freiheit geschrieben hat. Wohin der Wind die Aussagen treibt, weiß niemand; aber sicher ist, dass die Gedanken lange mitschweben. Bedeutet Freiheit nicht auch, Verantwortung für andere zu übernehmen?Wir sind im heutigen „Raum 13“, dem Ort, von dem einstens durch die Erfindung des Motors von Nicolaus August Otto die Motorisierung der Welt ausging; sein Denkmal steht quasi um die Ecke vor dem Bahnhof Deutz. Eine Industriebrache mit seit langem ausgeplünderten großen Hallen, im Verwaltungstrakt mit noch möblierten Büros und Räumen des Vorstands, mit endlosen Gängen und Treppenhäusern. Aus den Aktenschränken quellen Personalunterlagen auch sensiblen Inhalts, mit dem Datenschutz hatte man damals noch nicht so viel im Sinn. Und sind im dritten und letzten Teil der mehrfach preisgekrönten Trilogie Schönheit der Vergänglichkeit, einem Theaterprojekt, welches die früheren Mitarbeiter des Schauspiels Köln Anja Kolacek und Mark Leßle in den noch für einige Jahre zwischengenutzten Hallen aufführen. Sie dürfen sich freuen über vielfache Prämierungen, so über den Kurt-Hackenberg-Preis der Stadt Köln 2013 für Kriegsblicke, aktuell über die Nominierung für 2015 und über die Aufnahme des Theaters in die zehn wichtigsten Projekte zur kulturellen Nutzung historischer Industrieanlagen des Goethe-Instituts. Chapeau! Chapeau!Der gut dreistündige und körperlich anstrengende Abend beginnt in der Eingangshalle des ehemaligen Verwaltungstrakts, man steht small talkend eine Zeit lang herum und nippt an seinem Glas. Auf dem Boden ein großer Eisblock, schwarz gefärbt vom Ruß der industriellen Vergangenheit. Im Hof an historischen Personalmitteilungen vorbei über einer kleinen Bühne dann ein Transparent „Die Kunst der Revolution“. Eine Gruppe von sieben Schauspielerinnen in altmodischen Herren-Klamotten – die industrielle Revolution war ja eine reine Männer-Domäne – kommt singend und in Zeitlupe auf die Zuschauer zu, dazu ertönt die erste Version des deutschen Grundgesetzes aus der Weimarer Zeit und Beethovens Neunte. Und Exemplare von Richard Wagners Essay Die Kunst der Revolution flattern aus einer oberen Etage. Schon alles etwas verwirrend, als dann noch eine leibhaftige weiße BMW-Isetta aus einer Ecke des Hofes in die erste Halle tuckert – ein Oldtimer von 1957 und von Anja Kolacek persönlich gesteuert – die dann die Zuschauer mit sich in die nächste Spielstätte mitnimmt. Ein Symbol des technischen Aufschwungs und speziell der Motorisierung nach dem Zweiten Weltkrieg.
Denn dieser dritte Teil der Trilogie beinhaltet den Beginn der eigentlichen Industrialisierung. Eine Collage unter dem Thema In 80 Tagen um die Welt, eine Verbindung von Installation, Schauspiel, Performance, Tanz, Lesungen und Musik. Das Stück sollte bereits im vergangenen Jahr seine Uraufführung erleben, aber Marc Leßle, studierter Bühnentechniker und Beleuchter, stürzte vier Meter tief von einer Leiter; die angeknackste Wirbelsäule und die gebrochene Schulter haben das Projekt erheblich verzögert.Das Stück ist auch längst nicht fertig. Die Premiere am 30. April 2015 war eigentlich eine Generalprobe mit Publikum; ein Begleitheft, um den einzelnen Stationen besser folgen zu können, war noch nicht vorhanden. Die einzelnen Fragmente sind auch nur skizzenhaft angelegt und sollen über das Jahr kontinuierlich ausgebaut werden. Dazu kommen regelmäßige Werkstattführungen, die sogenannten „Einblicke“ und öffentliche Besichtigungen des ganzen Komplexes.Der historische Wunsch, die Welt in 80 Tagen umrunden zu können, ist lange Realität. Wir erleben heute die Industrialisierung 4.0, wo sich nach der Erfindung des Motors, der Fließbandproduktion (Auto, Schlachthof) und des Roboters nun die Maschinen selbstständig untereinander kommunizieren. Der Wissenschaftler erhält in der ersten Halle mit technischen Objekten ein Denkmal, denn er revolutioniert die Welt mit Motoren, mit Telekommunikation, mit Medizintechnik, verdient aber wenig. Das Kapital dann nimmt sich der Erfindungen an und macht damit den Reibach. Die Freiheit kommt durch das Lenkrad. Und das Flugzeug, welches in einem artistischen Tanz mit Ikarus-Flügeln symbolisiert wird, bedeutet den Traum von einer anderen Welt, von Freiheit und eigenen Ideen. Denn der Mensch wurde mit Mängeln erschaffen, da muss die Technik helfen, den eigenen Ort zu verlassen und auf das Zugtier verzichten zu können.

Die Zuschauer gehen im Stück in kleinen Gruppen auf eine Zeitreise, kommen nach vielen Treppen, langen Gängen und Eindrücken immer wieder in den „Impulshof“ als Ort der Besinnung und Erholung. Es gibt Getränke und Fischbrötchen, nachdem man vorher technische Errungenschaften und ein aberwitziges Ballett der Schauspielerinnen in der großen Halle erlebte; der Weg ging durch lange Kellergänge mit Assoziationen an Flüchtlingslager, an käuflichen Sex und die harte Arbeitswelt. Später dann ein Einblick in die früheren Räume von Verwaltung und Betriebsrat, überall fällt das Auge auf ein Sammelsurium von alten Projektoren, Grammophonen, Kameras und sonstigem technischem Schnickschnack.

Und es gibt viel zu hören: Reden von Rosa Luxemburg, Joschka Fischer, Gerhard Schröder, Ursula von der Leyen. Und ein Brief von Schiller an Humboldt über die Aufklärung, und wie die Gesellschaft funktionieren kann. Denn jetzt wird es politisch: Deutschland muss mehr Verantwortung für andere Länder tragen. Und Weltpolitik betreiben (Afghanistan, Bosnien), was früher aufgrund der eigenen Vergangenheit einfach nicht ging. Deutschland wollte hier in den Krieg, um einen erneuten Genozid zu verhindern. Denkanstöße sind notwendig, um in Freiheit und Brüderlichkeit zu leben. Denn was man sich nicht erkämpft hat, kann man nicht verteidigen.

Das hoch anspruchsvolle Stück ist außerordentlich vielschichtig und kann in allen Details kaum auf einmal aufgenommen und verarbeitet werden. Und erst recht nicht besprochen werden. Es ist einfach sehr lang und sehr viel und auch anstrengend. Aber man soll staunen und in sich gehen, und das gelingt den beiden sympathischen Theatermachern bestens, gelegentliche Rückenschauer inklusive.

Besuchte Aufführung: 18.07. 2015
Regie: Anja Kolacek und Marc Leßle

Köln, raum 13

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