Theater

Sommerblut-Festival: „Fucking Disabled“ am Orangerie-Theater

„Fucking Disabled“ von David von Westphalen & Co.
Foto: Lisa Miletic

Die Lust ist für jeden da

20. Mai 2018

Von Michael Cramer

Eine sehr hübsche junge Frau, mit blonden Locken, zarten Händen und einem engelsgleichen, hellwachen Gesicht und Sexappeal – aber schwer körperbehindert, mit völlig krummer Wirbelsäule, im Rollstuhl. Sie ist die zentrale Figur der Theaterperformance „Fucking Disabled“, einem Abend über Lust, Schönheit und erotische Kontakte, banal ausgedrückt: über „vögelnde Behinderte“. Natürlich haben auch diese benachteiligten Menschen sexuelle Wünsche und Ansprüche, haben einen Hormonhaushalt wie Gesunde; das Problem ist für die „Normalen“, wie „man“ damit umgehen kann. Unsicherheit und unnötige Vorsicht hemmen oft, obwohl die Behinderung gar keine Krankheit sein muss.

Im Orangerie Theater steht das Stück im Rahmen des Kölner inklusiven Sommerblutfestivals auf dem Programm, am heiteren Frühlingsabend warten zahlreiche zum Teil schwerbehinderte Rollstuhlfahrer im urig-historischen Innenhof auf die ausverkaufte Vorstellung – schon eine etwas beklemmende Stimmung. Das Team mit dem „blonden Engel“ Lucy Wilke, mit dem an spastischer Lähmung leidenden und kaum zu verstehenden Performer Danijel Sesar, mit Deva Bhusha, einer professionellen Tantralehrerin und Sexbegleiterin auch für Behinderte, und mit dem schönen, gesunden Tänzer Pawel Dudus ist eigens für die eine Veranstaltung aus München angereist.

Lucy Wilke, Foto: Lisa Miletic

Und natürlich begleitet vom Regisseur und Autor David von Westphalen. Er hatte Lucy kennengelernt, war fasziniert von ihr als Mensch mit verführerischem Lächeln und als Künstlerin mit einer verzaubernden Stimme, die zusammen mit ihrer blinden, Gitarre spielenden Mutter als das Duo blind & lame auftritt. Lucy leidet von Geburt an einer spinalen Muskelatrophie, die ihren Körper hat vollends verkümmern und verkrümmen lassen – womit sie allerdings voll im Leben steht bzw. sitzt. Ihr Gefühlsleben sei aber keinesfalls eingeschränkt, sie möchte öffentlich klarstellen: „Auch Behinderte haben Sex und genießen ihn.“ Von Westphalen musste erst mal seine eigene Unsicherheit überwinden, um die Revue mit Behinderten zu konzipieren und sehr mühsam einzustudieren.

Ein Tantra-Workshop um körperliche Liebe war für alle eine gute Voraussetzung, sich auf der Bühne bzw. auf einer große Matratze zu entkleiden; auch Lucy entschloss sich nach Versuchen mit Negligés und Bodys dann doch, ihren deformierten Körper nackt zu zeigen. Das ist auch für den Zuschauer ein Problem, hat der doch gelernt, Behinderte nicht übermäßig anzuglotzen. Aber hier ist das ja gewollt. Dazu der Regisseur: „Es geht ums Gesehen-Werden, Sich-Zeigen, Zurückschauen.“ Das Medikament seiner Wahl: Hemmung überwinden, Sinnlichkeit der Intimität zeigen und natürlich auch den Körper.

Pawel Dudus und Lucy Wilke, Foto: Lisa Miletic

Die Zuschauer scheinen fasziniert von der Szene, wenn Pawel die federleichte Lucy vorsichtig auf der Matratze ablegt und sie zart entkleidet. Das war nur liebevolle Zuneigung, Umsicht und Poesie, aber überhaupt kein Raum für Voyeure. Der sanfte Beginn der Performance – die Texte wurden für einige der Zuschauer von Gebärdendolmetschern übersetzt – ließ keinerlei Peinlichkeit aufkommen, alles erschien ganz natürlich und selbstverständlich. Die gängige Ansicht, dass Behinderte keinen Sex haben sollten, wirkte hier fast absurd. Es ging schon tief ans Gemüt, wenn Lucy im Liegen mit glasklarem Sopran eine antike Motette sang. Und die Musik von Filip Caranica tat ihr Übriges.

Zentrum der Performance war ein „Bonding“: Der athletische Tänzer wird zusammen mit Lucy von Deva wie mit einem Netz gefesselt, sie hängen an der Decke, Lucy dreht mit ihm fast erotisch, beißt ihm hin und wieder in die Pobacke. Ein wenig wird die Szene aus „Die Reifeprüfung“ der Verführung der Mrs. Robinson durch Dustin Hoffmann nachgespielt. Sie fordert: Behinderte sind keine Spezies, die besser unter sich bleiben sollten. Die vier liegen verschlungen auf der großen Matte, bewegen sich in Zeitlupe, ein fast galantes Spiel, in dem alle mit Fühlen und Betasten beschäftigt sind. Es ist schwierig zu erkennen, wem welche Extremität gehört, aber auch nicht notwendig. Ein Anblick, der sich tief ins Gedächtnis einprägt.

Beim anschließenden Schauspielergespräch und beim Glas Wein erfuhr man, dass diese Performance bisher zehn Mal gespielt wurde und dass nie jemand vorzeitig das Theater verlassen habe. Und dass die Zuschauer bei diesem erotischen Spiel die Behinderung nicht mehr wahrgenommen haben. Es war kein leichter Abend für die Akteure, aber ebenso wenig für die Zuschauer, die trotz der Beklemmung den Akteuren begeistert applaudieren, die auf der Erde kauerten und Lucy umringten. Denn stehen kann sie auch mit Hilfe nicht.vv

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