Ganz ohne Folklore – Bizets “Carmen” im Kölner Staatenhaus
Vielschichtig, spannend und ohne übliche Klischees
Von Michael Cramer
Premiere am 10. November 2019
Fotos: © Hans-Jörg Michel
Für Liebhaber von Rauchwaren, für militante Vegetarier oder Anhänger opulenter spanischer Folklore ist die neue „Carmen“ eher weniger geeignet, hat doch die amerikanische Regisseurin Lydia Steier das Stück nicht wie üblich vor einer Zigarettenfabrik verortet (obwohl Carmen ständig qualmte), sondern vor einer Markthalle mit riesigen Fleischbergen getöteter Stiere, wo ein totes Exemplar von einem Gabelstapler hereingefahren wird. Und später anstatt des Defilees der Stierkämpfer schleppt sich ein blutig gegeißelter Christus mit dem Kreuz auf dem Rücken vorbei an der johlenden Menge und schmeißt Kamellen ins verkleidete Volk.
Auch das Treffen der Schmugglerbande entpuppt sich als Sexorgie in den Kirchenbänken mit viel nackter Haut, und das alles ohne jedes opulentes Flair wie Fächer, Flamenco-Kleid und Kastagnetten. Kein Wunder, dass es für das Produktionsteam einige Buhs gab, vielleicht auch für den Straßenstrich mit vier erotisch bepinselten alten Wohnwagen als Schmugglerkneipe, mit reichlich Rauschgift und Zoff. Ist ja auch nicht so weit hergeholt, wenn man an die Brühler Straße denkt. Aber trotz kräftiger Blasphemie unter dem Strich völlig ungerechtfertigt, gab es doch im Staatenhaus einen fulminanten, vielfältig symbolträchtigen und blendend inszenierten Opernabend zu bestaunen und zu bejubeln. Großes Kino sozusagen.
Das Regiekonzept der international stark beschäftigen Steier, die in Köln mit prächtiger „Turandot“ in der Spielzeit 16/17 eine glänzende Visitenkarte abgegeben hatte, hat das überkommene Carmen-Bild gehörig durcheinandergewirbelt. Denn diese ist eine freiheitsliebende Partisanin im grünen Che-Guevara-Overall, die niemandem gefällig ist und am Ende Don José sogar den Dolch aus der Hand nimmt, um sich selbst zu erstechen. Nur ja nicht von einem Mann abhängig sein. Ein Finale mit Gruselcharakter, ebenso wie der Beginn, in dem Carmen – noch im weißen Unterkleid – auf ihr Alter Ego trifft, mit von Picas wie aus dem Stierkampf blutigem Rücken – alptraumhafte Vorausahnung ihres eigenen Endes, vor jedem der vier Akte wiederholt. In der bilderstarken, gegen den Strich gebürsteten temporeichen Inszenierung wimmelt es nur so von Andeutungen wie das käufliche Fleisch auf dem Markt, die Macho-Männer, die von Carmen per Tritt zwischen die Beine unangenehme Prügel beziehen, mit dem vorgegebenen Katholizismus, mit der pervertierten Marienverehrung und Carmen im Gewand der Gottesmutter, die wie eine Heilige verehrt wird. Die Fülle an szenischen Feinheiten und Regieeinfällen ist schon fast zu viel auf der breiten Bühne des Staatenhauses, welches dem Vernehmen nach von Lydia Steier sehr geschätzt wird. Es zeigt sich auch wieder bei dieser Produktion, wie die riesige Fläche szenisch ganz hervorragend genutzt werden kann.
Ungekrönter Star des Abends war die Kolumbianerin Adriana Bastidas-Gamboa, als Ehemalige des Kölner Internationalen Opernstudios und Gewinnerin des Offenbachpreises seither fest im Ensemble mit sehr vielfältigen Engagements auch in ihrer Heimat. Als Rollendebut mit unglaublicher Bühnenpräsenz, mit einer mühelosen lyrischen Höhe ihres sinnlichen, substanzreifen, sauber geführten Mezzosoprans, sehr ergreifend auch im Spiel – auch optisch einfach eine tolle Erscheinung. Sie ist einfach Carmen mit allen ihren Fasern. Martin Muehle als ihr – in der Oper verhinderter – Bühnenpartner Don Jose steht ihr in nichts nach, sein volltönender, höhensicherer und strahlender Tenor ist ideal für diese Rolle. Claudia Rohrbach gibt mit sicherer und klangschöner Stimme die Michaela, der Bassbariton Oliver Zwarg ist vielen Kölnern noch bestens in Erinnerung als Alberich. Hier konnte er sein voluminöses Organ und seine Spielfreude im Rollendebüt hervorragend als Escamillo einsetzen.
Martin Muehle und Adriana Bastidas-Gamboa
Sehr erfolgreiche Zöglinge des Opernstudios sind auch die Isländerin Arnheidur Eiriksdóttir und Alina Wunderlin als Mercédès und Frasquita; beiden dürfte eine große Karriere sicher sein. Auch Matthias Hoffmann als Zuniga ist ehemaliger Absolvent des Opernstudios und mit seiner Stimme und seinem Spieltalent auf einem sehr guten Weg zur großen Karriere. Lukás Barák singt und mimt den Moralès wunderbar rollengerecht, und die beiden Kölner Urgesteine Miljenko Turk und Alexander Fedin scheinen einer Gangstergeschichte entsprungen zu sein. Momme Hinrichs hat eine spannende, sehr interessante Bühne gebaut, eine graue Betonwüste, die immer wieder durch Verschiebeelemente modifiziert werden konnte. Zu Recht erhielt die stark beschäftigte Riege der Bühnenarbeiter einen separaten Vorhang.
Adriana Bastidas-Gamboa, Matthias Hoffmann
Chor und Extrachor, perfekt einstudiert von Rustam Samedov, machten ihre Sache hervorragend, waren auch szenisch stark gefordert, ebenso die Kinder des Kölner Domchores unter Eberhard Metternich. Das Gürzenichorchester war in Ermangelung des Orchestergrabens hinter einem halbdurchsichtigen Vorhang auf die Seite gerutscht; erstaunlich, wie Routinier Claude Schnitzler, der sich in Köln in zahlreichen Produktionen bestens bewährt hat, nur über Bildschirme den äußerst vielfältigen Apparat auf der Bühne im Griff hatte, da dürften kleine Wackler in der Synchronisation verzeihlich sein. Das blendend gelaunte Orchester erfreute mit differenzierten Klangfarben, herrlichen Bläserstimmen und einem opulenten Sound.
Oliver Zwarg
Die Oper Köln hat mit dieser beklemmenden, packenden Inszenierung einen erneuten Höhepunkt erklommen, der die überregionale Bedeutung des Hauses unter der erfolgreichen und anerkannten Intendantin Dr. Birgit Meyer auch bei den chronischen Nörglern weiter zementieren dürfte. Auch wenn die Wiedereröffnung am Offenbachplatz immer teurer wird und noch in weiter Ferne liegt. Welch ein Elend. Es sind zahlreiche weitere Aufführungen angesetzt mit wechselnden Besetzungen.